"4.0 Eden Bonsai Tokonoma"
9/2023, Acryl auf Foto-Leinwand, 140 x 140 cm
Video "4.0 Eden Bonsai Tokonoma"
Detailansichten "4.0 Eden Bonsai Tokonoma"
  <-- #4                           Übersicht                           #2 -->

Das Bild „4.0 Eden Bonsai Tokonoma“ ist eine hochkomplexe, vielschichtige und symbolisch aufgeladene Arbeit, die durch eine Vielzahl kultureller, religiöser, politischer und medienkritischer Referenzen eine eigene visuelle Sprache entwickelt. Der Titel selbst trägt bereits zentrale semantische Hinweise: „4.0“ verweist auf die Industrie- bzw. Technologiegesellschaft der Gegenwart, „Eden“ evoziert biblisch-mythologische Vorstellungen von Ursprung und Sündenfall, während „Bonsai Tokonoma“ auf japanische Ästhetiken der Miniaturisierung, Meditation und symbolischen Raumgestaltung verweist. Tokonoma, traditionell ein Wandnischen-Altar zur Präsentation geistiger Objekte, wird hier zur Bühne einer digital-rituellen Szene: einem technologisierten Paradies mit dystopischer Schlagseite.
1. Bildbeschreibung
Das Bild zeigt zwei entblößte, menschliche Figuren mit Gasmasken, die teils mit einem baumartigen Gebilde verwachsen, teils daran aufgehängt erscheinen. Die organisch-technische Form erinnert an ein kybernetisches Wurzelwerk – halb Baum, halb Maschine. Über das Bild verteilt finden sich technische Begriffe wie „Holy spirit extractor“, „Recovery machine“ oder „Lance of Longinus interface“, die in weißer Interface-Schrift eingebettet sind – fast wie Labels in einem Kontrollzentrum. Die dominante Farbgebung kombiniert fleischige Rottöne mit einem cyan-türkisfarbenen ornamentalen Hintergrund, wodurch ein Kontrast zwischen Körperlichkeit und digitaler Ästhetik entsteht.

2. Kunstgeschichtliche Einordnung
a. Postmoderne Ikonografie & Appropriation Art
„4.0 Eden Bonsai Tokonoma“ greift bewusst auf religiöse, medizinische und technologische Bildtraditionen zurück – insbesondere auf christliche Ikonografie (Longinuslanze, Kreuzigungsform, Heiligenscheinstrukturen), die mit User-Interface-Elementen und kybernetischem Jargon überlagert werden. Diese Strategie der Übercodierung steht in der Tradition postmoderner Appropriation Art.
b. Neo-Expressionismus & Neue Wilde
Die expressive Behandlung der Körper, die grellen, offenen Farbfelder und die pastose Oberfläche erinnern an Werke von Anselm Kiefer oder Jean-Michel Basquiat – mit einem Einschlag technoider Überdeterminierung, wie man sie bei H.R. Giger oder zeitgenössischer Bio-Art findet.

c. Sakrale Bildtradition & Surrealismus
Die Komposition besitzt die Zentralität eines Altarbilds – mit einem ikonografischen Zentrum und einer fast rituellen Bildsymmetrie. Gleichzeitig bricht sie diese Form durch surrealistische Elemente wie organisch-wuchernde Körpermaschinen, die an Max Ernst oder frühe Dalí-Werke erinnern.
3. Philosophische Dimension
a. Transhumanismus und Kybernetisierung
Die Darstellung verweist auf den Zustand des Menschen als kybernetisches Hybridwesen – gefangen im Spannungsfeld von Spiritualität und Technologie. Die Begriffe im Bild erzeugen eine maschinenlogische Semantik, die auf die Instrumentalisierung des Menschen als „Datenträger“ oder „Systembestandteil“ anspielt.

b. Profanierung sakraler Systeme
Das Bild arbeitet mit christlich aufgeladenen Begriffen, die in technische Zusammenhänge überführt werden. Dies folgt Agambens Theorie der Profanierung: Was einst heilig war, wird in der Gegenwart funktionalisiert und ökonomisiert – auch das „Heil“ ist nun extrahierbar („Holy Spirit Extractor“).
c. Poststrukturalismus und Simulationskritik
Die Bildsprache folgt keiner kohärenten Erzählung, sondern ist durch Layering, Fragmentierung und Multikodierung geprägt. Dies verweist auf Baudrillards Theorie des Hyperrealen: Es wird keine Realität mehr dargestellt, sondern ein visuelles Simulacrum – ein „Eden 4.0“, das nur noch als Oberfläche existiert.

4. Stilistische Merkmale
Materialität:
Reliefartige Textur, Acrylfarbe auf foto-basierter Leinwand erzeugt einen Hybrid aus Fotografie und Malerei – als wären unterschiedliche Medienebenen digital verschmolzen.

Typografie & Interface-Ästhetik:
Digitale Schriftzüge imitieren technische Interfaces, als handle es sich um ein Diagnose-Display oder medizinisch-kybernetisches Manual.

Komposition:
Zentralperspektivisch und ikonografisch organisiert – eine futuristische Bildtafel mit altmeisterlichem Aufbau.

Symbolismus:
Die verwendeten Begriffe sind keine Beschreibungen, sondern semantische Trigger: Sie erzeugen ein mythisch-technologisches Bedeutungssystem, das sich zwischen Religionskritik, Medienreflexion und politischer Körpermetapher bewegt.


5. Interpretation und Bedeutung
„4.0 Eden Bonsai Tokonoma“ ist ein visuelles Palimpsest: ein Paradies der vierten industriellen Revolution – ästhetisch kontrolliert, kulturell durchsetzt, technologisch kolonisiert. Die sakralen Spuren (Eden, Heiliger Geist, Lanze) werden zersetzt und in ein kybernetisches Bonsai-System miniaturisiert: Spiritualität wird extrahierbar, der Mensch zur Wartungseinheit seines eigenen Kontrollsystems.
Thematische Schwerpunkte:
• Technologische Ausbeutung und biopolitische Kontrolle des Körpers
• Verlust und Transformation religiöser Sinnsysteme
• Kritik an der Verschränkung von Heilserzählungen und technischer Machbarkeit
• Ironisierung von „Erlösung“ durch industrielle Präzision
• Ästhetische Miniaturisierung existenzieller Fragen – das Tokonoma als kontrollierter Darstellungsraum spiritueller Zerstörung

Fazit:
4.0 Eden Bonsai Tokonoma“ ist ein dystopisches Andachtsbild unserer Zeit – ein hybridisiertes Tryptichon aus Transzendenz, Technologie und Trauma. Es steht exemplarisch für eine Kunst, die nicht auf glatte Lesbarkeit abzielt, sondern Ambivalenz, Reibung und Komplexität zum ästhetischen Prinzip erhebt.
Ausstellungsansicht:​​​​​​​
Back to Top